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IDIOTIE

PÄDAGOGIOTIE

RITUALE


"Kinder brauchen Rituale"

Rituale und ein strukturierter Tagesablauf sind wichtig für Kinder. Sagt die Pädagogik.
Kinder brauchen Rituale, um Regeln zu lernen, ja um überhaupt zu lernen, und um sich nicht verloren zu fühlen.

Ist dies wirklich so? Gibt es dafür Beweise?

Kann es in psychischen Fragen (im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen) überhaupt Beweise geben? Oder nicht doch bloß Hinweise!
Es kann also niemand zurecht behaupten, er wisse etwas. Man kann nur seinem Gefühl folgen und einen Weg einschlagen, den man für gut hält. Menschen handeln aber immer weniger nach Gefühl und Instinkt. Pädagogen schon gar nicht – die "Erziehungswissenschaft" gibt die Richtung vor. Und wird nicht hinterfragt.
So auch beim Thema Rituale: gebetsmühlenhaft werden immer die gleichen alten Weisheiten verbreitet – von der Hochschule bis in die Kinderkrippe. Zweifel gibt es nicht.

Oder doch?

Seitdem ich mich mit pädagogischen Fragen beschäftige, also seit fast 30 Jahren, zweifle ich am Wert von Ritualen.
Leider konnte ich bis dato kaum Widersprüchliches zu diesem Axiom finden.

Dr. Mario Erdheim durchleuchtete in einem Artikel die Ritualversessenheit:

(sinngemäß / mit Auslassungen)

"Bereiche, die vor Wandel geschützt werden sollen, werden rituell durchreglementiert und können sich so stabil halten."

"Rituale blockieren das selbstständige Denken und stehen im Dienst der Unbewusstmachung von Problemen und Veränderungsmöglichkeiten."

"Rituale sind Mittel zur Durchsetzung eines Sinns, der nicht mehr hinterfragt werden soll."

"Rituale sind Handlungsanweisungen, die quasi automatisch durchgeführt werden sollen."

"Rituale sind Zwangshandlungen."


Dr. Manuel Mendez-Burguillos sagte in einem Vortrag:

"Rituale braucht nur, wer eine Haltung zeigen will, die er innerlich nicht hat."

"Rituale spiegeln nicht die Gesellschaft wider, sondern instrumentalisieren diese."

"Rituale fördern Zwangsstörungen"


Dem kann ich nur noch hinzufügen:

Erziehende und Regierende brauchen Rituale, nicht die Kinder.


 "Kinder brauchen Rituale" (als PDF) 



Rituale in der Kita

Von Römern und Galliern

Ein Essay von Ralph Eckstein, am 1. Januar 2015

Wir befinden uns im Jahre 2015. Die Kindertagesstätten sind vollständig von Erzieherinnen besetzt ... vollständig? Nein! Unbeugsame Kinder hören nicht auf, Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Erzieherinnen, die als Besatzung in den befestigten Lagern Teamraum, Besprechungsraum und Küche liegen ...

Nun könnte ich diese allgemein bekannte Geschichte anhand von unzähligen Beispielen individuell verschieden, inhaltlich jedoch jeweils immer gleich, weiterführen ... stattdessen lege ich meine Gedanken zum Kitaalltag dar, in diesem Fall bezüglich Ritualen.

Rituale vermitteln Sicherheit, indem sie Struktur und Orientierung schaffen sowie Kommunikationsabläufe regeln. Rituale synchronisieren Handlungen und vereinfachen deshalb Situationen und Abläufe. Regeln, Konventionen und Gepflogenheiten werden durch Rituale verinnerlicht. So tönt es allenthalben.

Auch Textor schreibt (Auszug aus: Unser Auftrag 1990, Nr. 7/8, S. 23-24):
Bei einer ausgewogenen Sinn- und Werterziehung sowie ganz besonders im Bereich der religiösen Erziehung spielen Brauchtum, Traditionen und Rituale eine wichtige Rolle. Auch sind zum Beispiel Hilfen und Anregungen anzubieten, wie Feste und Feiern im Familienkreis neu belebt werden können. Dabei kann auf die Erlebnisse und Erfahrungen der älteren Generation zurückgegriffen werden. Kinder sind sehr daran interessiert, "wie es früher einmal war". So sind Fragen wie "Was hast Du an Deinem Geburtstag erlebt, als Du ein Kind warst?" keine Seltenheit. Kinder haben bereits ein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein und ein engeres Verhältnis zur Überlieferung als wir Erwachsene wahrhaben wollen. Es ist sicher richtig, daß Kinder sich in unserer heutigen Welt zurechtfinden müssen. Das schließt jedoch nicht aus. daß auch die Vergangenheit mit ihren tradierten Überlieferungen erhalten bleiben muß und nicht durch neuzeitliche Errungenschaften und Trends verdrängt werden darf. Ist es nicht ein Auftrag der kirchlichen Erwachsenenbildung, den Wert der Fest- und Feiergestaltung durch modellhafte Beispiele und Anregungen wieder neu zu beleben? Könnten nicht verstärkt Angebote und Anregungen gegeben werden, wie zum Beispiel Feste und Feiern wieder in das Familienleben integriert werden können? Sollten nicht beispielsweise im Kindergarten Begegnungen zwischen Kindern und alten Menschen herbeigeführt werden, so daß erstere mehr über vergangene Zeiten lernen können? Kinder brauchen Erfahrungen und Erlebnisse im Umgang mit Traditionen, denn dies gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Viel zu oft müssen sie nämlich heute in den verschiedensten Lebenslagen Verluste hinnehmen. Immer wieder erleben sie, daß das, was heute noch da war, sich morgen schon verändert hat. Das macht Angst. Nur wenn Kinder sich fest verwurzelt fühlen, können sie die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen.

Auch Textor ruminiert hier lediglich verbreitete anthropologisch-pädagogische Hypothesen, die durch nichts belegbar sind – zudem geprägt von einem sehr konservativen Weltbild. Mein Bild von der Welt und vom Kind ist völlig anders. Die Anmaßung, zu wissen "was Kinder brauchen", liegt mir fern, genauso wie ich nicht weiß (im Gegensatz zu Missionaren) "was Neger brauchen" oder (im Gegensatz zu Feministinnen) "was Frauen brauchen". Derartige Überlegungen zeugen von einer übergeordneten, chauvinistischen Positionierung.

Ich behaupte, dass Kinder sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben und eine Einheits-Schuhgröße völlig unpassend ist. (Genau wie bei "richtigen" Menschen, also Erwachsenen, und inzwischen zählen ja sogar Farbige und Frauen dazu – trotz heftigsten Widerstands von allen Religionsführern. Bis Kinder allerdings als vollwertige Menschen inklusive aller Rechte gesehen werden, vergeht sicher noch einige Zeit.)

Möglicherweise fühlen sich viele Kinder (genau wie Erwachsene) in einer Synchronisation mit anderen tatsächlich wohl – aber ebenso viele eben nicht!

Damit stellt sich die Frage, wem und warum diese konsensbasiert mutgemaßte Wichtigkeit ritualisierter, synchronisierter Abläufe dient:

Den Eltern? Klar! Eltern benötigen funktionierende, geregelte Kinder, um mit ihren eigenen strukturellen Zwängen zurechtzukommen.

Der Kita? Klar! Dort ist Struktur natürlich besonders wichtig – wie sollte man denn sonst diese "Gallier" "unter Kontrolle halten".

Den Schulen? Klar! Schüler, die ihrer inneren Uhr folgten, wären mehrheitlich nicht um 07:45 Uhr in der Schule.

Der Wirtschaft? Klar! Nur synchronisierte Zahnrädchen halten das derzeitige Getriebe am Laufen.

Dem Staat? Klar! ... zumindest solange Staat, Wirtschaft und Politik synonym verstanden werden und bei Wahlen entsprechende Kreuze geschlagen werden.

Den Kirchen? Klar! Ohne Rituale wären diese noch schneller dem Untergang geweiht! ("Weihnachten ist doch soooo schön, und ich will in Weiß heiraten!")

Dem Kind? Klar! ... oder doch nicht?

Weshalb sollten Kinder (oder Erwachsene) Bedürfnisse wie Essen, Schlafen, Austoben, Ausruhen, usw. einem festgelegten Tagesplan unterwerfen wollen? Vielleicht dann, wenn sie es von klein auf so gewohnt sind.

Aber sind Bedürfnisse und Gewohnheiten vereinbar?
Oder werden Bedürfnisse nicht vielmehr mit der Zeit gar nicht mehr gespürt, weil sie im Brackwasser der Gewohnheiten untergeganen sind!

Kein Kind (oder Erwachsener) will ohne Hunger essen.
Kein Kind (oder Erwachsener) will ohne Müdigkeit schlafen.
Kein Kind (oder Erwachsener) will ... (unendlich fortsetzbar)

Aber sie tun es doch. Weil ...
... "jetzt Essenszeit" ist,
... "jetzt Schlafenszeit" ist,

... und "jetzt die Tagesschau" kommt (seit langem angeblich der wichtigste zeitbestimmende Faktor im durchritualisierten Tagesablauf von Familien!).

Meine Großmutter lebte ihren anerzogenen, geregelten Tagesablauf strikt:
07:00 Aufstehen, 08:00 Frühstück, 12:00 Mittagessen, 15:00 Kaffee, 18:30 Abendessen, 20:00 "Tagesschau", 20:15 ARD oder ZDF, 22:30 Bett.
Sie klagte bei jeder Mahlzeit, dass sie keinen Hunger habe.
Sie klagte jeden Morgen, dass sie ab 04:30 nicht mehr habe schlafen können.
Bedarf dies eines Kommentars?

Rituale, seien sie für den jeweilig einzelnen auch noch so nutzlos oder schädlich, sind und waren schon immer Machtmittel, um bewusste oder unbewusste Verbundenheitsgefühle gegenüber den Machthabenden hervorzurufen und zu manifestieren. (Religiöse Rituale wie Beschneidung oder Rituale der Nazizeit sollten beispielgebend genug sein!)

Im "Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan" steht geschrieben:
"... der Mensch ist auf Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit hin angelegt."

Nimmt man dies ernst, kann das nur bedeuten:
Kinder wissen, was sie brauchen, wann, wo, wie und warum.
Und sie fordern es ein, zumindest solange sie noch nicht zu viele Hindernisse in den Weg gelegt bekommen haben und deshalb resigniert haben.

Der Eindruck, Kinder seien auf "Orientierung" durch strukturierende Rituale und Tagesabläufe angewiesen um nicht in Ängsten unterzugehen, trügt! Dies ist lediglich eine der vielen unreflektierten Erwartungshaltungen Erwachsener. Und solchen entsprechen Kinder fast zwangsläufig – sie wollen ja geliebt sein.

Dass echte Liebe bedingungslos ist, verstehen viele Kinder und Erwachsene offenbar nicht – ansonsten würden sie sich nicht weiterhin in den Erwartungen anderer (Eltern, Erzieher, später Partner) verlieren, sondern wären bei sich.

Hat man ein Bild vom Kind, das dieses als unentwickelten, unfähigen und unvollkommenen Menschen darstellt, wird man die Berechtigung von übergestülpten Bedürfnisvorgaben nicht in Zweifel ziehen.

Hat man dagegen ein Bild vom Kind, das dieses als kompetenten Säugling und selbstbestimmt von Anfang an zeigt, wird man die Verhältnisse in Kindertagesstätten sowie Gesellschaft nicht unkritisch betrachten können.

Statt aufgesetzter Rituale: Das echte Leben leben – und leben lassen.


 Rituale in der Kita (als PDF)